BAG, Urt. V. 16.02.2012 – 6 AZR 553/10
In dem hier gegebenen Sachverhalt wurde einem vorläufigen Insolvenzverwalter im Rahmen seiner Verwaltertätigkeit vom örtlich zuständigen Insolvenzgericht die Arbeitgeberbefugnisse eingeräumt. Zwecks Erfüllung der Arbeitgeberfunktion verteilte der Insolvenzverwalter Fragebögen an die Belegschaft. Erfragt wurde u.a. das Vorliegen einer Schwerbehinderung bzw. die Gleichstellung mit einem Schwerbehinderten.
Der Kläger, bei dem ein Grad der Schwerbehinderung in Höhe von 60% bestand, antwortete auf dem Fragebogen hinsichtlich der Schwerbehinderung und Gleichstellung jeweils mit „nein“.
Auf Grundlage eines geschlossenen Interessenausgleichs wurde dem Kläger ordentlich gekündigt. Sodann erhob dieser eine Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht. Der Kläger vertrat dabei insbesondere die Ansicht, dass die Kündigung ohne die Beteiligung des Integrationsamtes unwirksam gewesen sei.
Das BAG urteilte als Revisionsinstanz, dass die Kündigung rechtmäßig war.
Im Grundsatz muss gem. § 85 SGB IX vor der Kündigung eines Schwerbehinderten die Zustimmung des Integrationsamtes eingeholt werden. Fehlt diese, so ist eine Kündigung nach § 134 BGB nichtig. Der besondere Kündigungsschutz soll die Nachteile, welche schwerbehinderte Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt haben, ausgleichen.
Im vorliegenden Fall war dem Kläger jedoch der Sonderkündigungsschutz nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt. Die Kündigung war als widersprüchliches Verhalten unbeachtlich (sog. venire contra factum proprium). Unzulässigerweise hatte der Kläger die (zulässige) Frage nach der Schwerbehinderung mit „nein“ beantwortet.
Im Grundsatz ist die Frage nach einer bestehenden Schwerbehinderung spätestens mit Erwerb des Behindertenschutzes gem. § 90 I Nr. 1 SGB IX zulässig. Dies auch zur Vorbereitung von Kündigungen. Das dem Arbeitgeber obliegende Rücksichtnahmegebot (§ 241 II BGB) im Wege der Sozialauswahl macht es erforderlich, dass die Frage wahrheitsgemäß durch den Arbeitnehmer beantwortet wird.
Aber auch im bestehenden Arbeitsverhältnis ist es erforderlich, dass der Arbeitgeber über den Status der Schwerbehinderung in Kenntnis gesetzt wurde. So trägt der Arbeitgeber beispielsweise die Pflicht zur behinderungsgerechten Beschäftigung (§ 81 IV 1 Nr. 1 SGB IX), zur Zahlung einer Ausgleichsabgabe (§ 77 SGB IX) und zur Gewährung von Zusatzurlaub (§ 125 SGB IX).
Abschließend prüfte das BAG einen Verstoß gegen das Allgemeine Gleichstellungsgesetz, das Bundesdatenschutzgesetz sowie gegen das Europa- und Verfassungsrecht. Dies führte jedoch nicht zu einem anderen Ergebnis.